"Wenn Sie einmal in ein ratloses Gesicht schauen wollen, dann fragen Sie Ihren
Zahnarzt doch das nächste Mal nach einer Amalgamfüllung. Schon heute werden
viele Zahnärzte Ihrem Wunsch nicht mehr entsprechen, und in Zukunft werden es
immer mehr sein, die auf die Verwendung von Amalgam verzichten und stattdessen
Kunststoffe, sogenannte Komposite, als Füllmaterial verwenden.
Genaue Zahlen über den Anteil der Zahnärzte, die kein Amalgam mehr verwenden,
gibt es zwar keine, aber laut Peter Jäger von der Schweizerischen
Zahnärztegesellschaft (SSO) ist der «Trend ganz klar»: weg von den umstrittenen
Quecksilberlegierungen. Rainer Voelksen vom Schweizerischen Heilmittelinstitut
Swissmedic schätzt, dass heute weniger als 10 Prozent aller Zahnfüllungen mit
Amalgam ausgeführt werden. «Für die Erstversorgung ist Amalgam tot», erklärt
Adrian Lussi von der Universität Bern. Nur für große Löcher in den Seitenzähnen
verwende man noch Amalgam, sofern den Patienten das nötige Kleingeld für die um
ein Vielfaches teureren Keramik- oder Goldfüllungen fehle oder
Kunststofffüllungen aus technischen Gründen nicht geeignet seien. In praktisch
allen anderen Fällen setzte man auf Kunststoff.
Ganz im Trend liegt auch die Universität Zürich. Im Unterschied zu den
Hochschulen in Basel, Bern und Genf lernen die Studenten hier schon seit Jahren
nicht mehr, wie man Amalgam verarbeitet und appliziert. Dieses Problem überlässt
die Zürcher Uni der späteren beruflichen Weiterbildung ihrer Absolventen. Und
weil die Hochschulen nun mal darüber bestimmen, was in einer Disziplin «State of
the Art» ist und was nicht, gilt heute als ewig gestriger Trottel, wer noch
irgendein gutes Wort über Amalgam verliert.
Tatsächlich kommt es bei der Anwendung von Amalgam in sehr wenigen Fällen zu
allergischen Reaktionen, die ein Entfernen der Plomben notwendig machen. Doch
solche Fälle sind seltener als bei den hierzulande propagierten
Alternativfüllungen aus Komposit, die in extrem seltenen Fällen sogar
lebensbedrohliche anaphylaktische Schockreaktionen auslösen können.
Das allergene Potenzial von Kunststoffen ist also größer als dasjenige von
Amalgam. Andere Studien haben außerdem nachgewiesen, dass die derzeit auf dem
Markt befindlichen Kunststoffmaterialien im Reagenzglas als Zellgift wirken
(«Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift», 10/2001) und dass einige Inhaltsstoffe
genetische Veränderungen und damit auch Krebs verursachen könnten («Mutagenic
Research», Bd. 368 [1996]).
Ein faktisches Verbot
Deswegen sind Kunststofffüllungen nicht automatisch gefährlich. Doch die rasche
Entwicklung dieser Materialien macht es heute unmöglich, alle Nebenwirkungen mit
der gleichen Sicherheit wie bei dem seit über hundert Jahren verwendeten und
bestens untersuchten Amalgam vorauszusagen. «Man muss sich die Frage stellen, ob
man durch den ausschließlichen Einsatz von Alternativmaterialien nicht den
Teufel mit Beelzebub austreibt», erklärt Rainer Voelksen von Swissmedic. In
einer Empfehlung, die voraussichtlich noch vor Ende Jahr publiziert wird, hält
sich Swissmedic exakt an die Position der WHO. Die Weltgesundheitsorganisation
rät, bei Schwangeren und Kleinkindern auf Amalgam zu verzichten. Eine generelle
Sanierung von Amalgamplomben wird aber nicht empfohlen, und auch ein generelles
Verbot werde nicht erlassen, erklärt Voelksen. «Dafür fehlen uns die
wissenschaftlichen Fakten. Ein entsprechender Entscheid wäre juristisch nicht
haltbar.»
Das scheint auch gar nicht mehr nötig zu sein. Denn faktisch hat die
Kapitulation der Zahnärzte vor der Amalgamhysterie genau das gleiche Resultat.
Die Dummen sind die Patienten, die in Zukunft immer seltener die freie Wahl
zwischen Amalgam und Komposit haben werden. Und die dafür auch noch höhere
Preise zahlen müssen. Denn eine Füllung aus Kunststoff ist teuer. Die
Verarbeitung erfordert vom Zahnarzt eine ungleich größere Sorgfalt als beim
problemlosen Amalgam, dass auch beim Kontakt mit Speichel austrocknet.
Kunststoff dagegen benötigt absolute Trockenheit, damit sich die Moleküle zu
einem festen Polymer verbinden. Verarbeitungsfehler wirken sich daher
drastischer aus als bei Amalgam und erfordern vergleichsweise häufig
Nachbehandlungen.
Die Achse des Bösen
Trotz all diesen Vorteilen gilt Amalgam seinen Gegnern als Wurzel allen Übels,
gelten Naturwissenschaften, Schulmedizin und Amalgamhersteller als
zahnmedizinische Achse des Bösen. Amalgamskeptiker machen die Füllungen für fast
200 verschiedene Symptome verantwortlich. Ob Konzentrationsschwäche,
Depressionen, Kopfschmerzen, Krebs, multiple Sklerose oder Alzheimer: Wenn man
nicht weiß, woran es liegt, dient Amalgam als Sündenbock. Mit der Ächtung der
Legierung haben die Amalgamgegner einen Sieg errungen, der umso erstaunlicher
ist, als wissenschaftliche Belege für die Schädlichkeit der Füllungen fehlen und
– schlimmer noch – die heute an ihrer Stelle verwendeten Kompositmaterialien
weniger haltbar und aus medizinischer Sicht weniger gut einzuschätzen sind als
Amalgam.
Das in der Zahnmedizin verwendete Amalgam besteht zu rund 50 Prozent aus
Quecksilber, dem einzigen metallischen Element, das bei Zimmertemperatur flüssig
ist. Die restlichen 50 Prozent setzen sich aus einem Legierungspulver zusammen,
das in erster Linie Silber und in geringerem Masse Zinn und Kupfer enthält. Beim
Vermischen der Bestandteile verbindet sich das Quecksilber mit den
Pulverteilchen, wodurch ein sehr harter und dauerhafter Verbund entsteht.
Mit der chemischen Zusammensetzung sind zwei Nachteile des Werkstoffs verbunden.
Die Füllungen sind nicht zahnfarben, und sie geben winzige Mengen von
Quecksilber in den Speichel ab, das dann unter anderem über den Magen-Darm-Trakt
in den Organismus gelangt. Adrian Lussi von der Universität Bern hat gemessen,
dass Amalgamträger auf diesem Weg täglich ein Mikrogramm Quecksilber aufnehmen.
Doch diese Konzentration ist, gemessen an den Grenzwerten der WHO, unbedenklich,
führt sie doch nur zu einer Konzentration von maximal 5 Mikrogramm Quecksilber
in einem Liter Blut. Die sogenannte kleine Quecksilbervergiftung (Mikromerkuralismus)
beginnt dagegen erst bei 20 Mikrogramm, einem Wert, der nicht durch
Amalgamplomben, dafür aber durch häufigen Fischkonsum verursacht werden kann.
Wer also Amalgam verbieten will, müsste sich eigentlich zunächst um die
Schließung der Zürcher Sushi-Bars bemühen, bevor er sich der Zahnheilkunde
zuwendet. Doch davor bewahrt uns wahrscheinlich die Statistik: Japaner haben
trotz häufigem Fischverzehr und daher überdurchschnittlich hohem
Quecksilbergehalt im Blut die höchste Lebenserwartung der Welt.
«Die meisten Menschen die über Amalgambeschwerden klagen, haben in Wahrheit
andere Probleme», schreiben Walter Krämer und Gerald Mackenthun in ihrem Buch
«Die Panikmacher» (Piper-Verlag). Das tönt vielleicht zynisch. Aber es lässt
sich durch verschiedene Studien belegen. Zuletzt hat eine in der Zeitschrift «Psychotherapy
and Psychosomatics» (Bd. 71, S. 223) veröffentlichte Untersuchung nachgewiesen,
dass das Auftreten der angeblichen Amalgambeschwerden nicht mit dem
Quecksilbergehalt im Blut der Patienten korreliert. Die Patienten haben im
Schnitt die gleichen Blutwerte wie der beschwerdefreie Teil der Bevölkerung.
Dieses Ergebnis stütze die These, dass die Leiden der Patienten in Wirklichkeit
ein Ausdruck von psychischen Problemen seien, sagen die Autoren der Studie.
Nimmt man alle Vor- und Nachteile zusammen, fällt die Bilanz für
Kunststofffüllungen heute noch ernüchternd aus. Sie sehen zwar besser aus, ihre
Nebenwirkungen sind aber heute kaum abzuschätzen, ihre Verarbeitung ist
fehleranfällig, und sie sind teuer. Und vor allem: Die Lebensdauer von
Amalgamfüllungen erreichen die Komposite trotz großen Fortschritten bis heute
nicht. Schon aus diesem Grund ist der Vorwurf, manche Zahnärzte hielten aus
finanziellen Gründen an Amalgam fest, Unsinn. Im Gegenteil: Allein in
Deutschland sind in den letzten 10 Jahren zweistellige Milliardenbeträge für
unnötige Amalgamentfernungen bezahlt worden."